Sieben Monate Vogesen, in Flandern und in der Champagne

Leutnant Otto Kerler

Sieben Monate in den Vogesen, in Flandern und in der Champagne: Briefe aus dem Felde an seine Mutter

Erscheinungsjahr: 1916

Verlag: C. H. Beck

Herausgegeben von Anna Kerler, geborene Brater

ACHTUNG: Der ursprüngliche Text ist gemeinfrei, der nachfolgende Text ist jedoch redaktionell und inhaltlich bearbeitet und unterliegt daher dem Urheberrecht!

Informationen zu Otto Kerer:

Bei Recherchen stieß ich auf das Buch „Sieben Monate in den Vogesen, in Flandern und in der Champagne„. Es wurde 1915 von Anna Kerler herausgegeben, nachdem ihr Sohn, Leutnant Otto Kerler gefallen war. Es enthält die Briefe, die er seiner Mutter von seinem Kriegseinsatz schrieb. Ich möchte das Buch transkribieren und hier nach und nach veröffentlichen.

Otto Kerler wurde am 09.05.1876 in der bayerischen Stadt Erlangen geboren, war Agrikulturchemiker und diente als Leutnant der Landwehr in der 11. Kompanie des 2. bayerischen Landwehr-Infanterie-Regiments. Er war mit dem bayerischen Militär-Verdienstkreuz 2. Klasse mit Krone und Schwertern ausgezeichnet und für das Eiserne Kreuz vorgeschlagen.

Otto Kerler fiel am 07.03.1915 bei Sommepy-Tahure im Alter von 38 Jahren.

Über seinen Todestag und die Todesumstände von Otto Kerler berichtet die Regimentsgeschichte des 2. bayerischen Landwehr-Infanterie-Regiments:

„In der Abenddämmerung brachen von der rechten Gruppe die 8. und 11. Kompanie vor. Der Sturmlauf der 11. Kompanie wurde von dem feindlichen Infanteriefeuer, das vom rechten Verbindungsgraben her kam, gefasst. Der tapfere Kompanieführer, Hauptmann Ulrich, wurde schwer verwundet. Bald darauf fand Leutnant Kerler den Heldentod.“

Man begrub Otto Kerler auf dem Soldatenfriedhof Souain in einem Massengrab.

Todeanzeige für Otto Kerler

Der Inhalt des Buches

Vorwort

Die folgenden Blätter enthalten Abschnitte aus den Feldpostbriefen, die mein Sohn mir täglich geschrieben hat. Sie waren nicht zur Veröffentlichung bestimmt, und sind teilweise unter den ungünstigsten äußern Verhältnissen entstanden. Da keinerlei Veränderungen vorgenommen wurden, tragen sie nach Form und Inhalt das Gepräge völliger Unmittelbarkeit. Vielleicht sind sie für manchen Leser, der selbst im Feld stand oder für seine Angehörigen eine willkommene Erinnerung an Selbsterlebtes und Miterlebtes.

Würzburg, Oktober 1915

Anna Kerler, geborene Brater


Würzburg, 2. August 1914

Liebe Mutter!

Also nun haben wir Krieg! Gott sei Dank, dass dieses elende Warten rum ist. Diesem … Zar – entschuldige den Ausdruck, aber ich habe für diesen Hunnenkaiser keine andere Bezeichnung – werden wir das Leder ordentlich bestreichen.


München, 5. August 1914

… Meine Vorbereitungen sind ziemlich fertig, morgen früh fahre ich nach Passau. Ich bin guten Muts, ich weiß, Du bist in guten Händen. Überall herrscht tadellose Ordnung. Mein Testament habe ich auch gemacht. Nun kommt heute noch ein schwerer Abschiedsabend mit den Freunden – zwei müssen sich morgen gleichfalls stellen, zwei weitere haben sich gemeldet, so dass von neun Anwesenden einstweilen nur einer nichts mit dem Krieg zu tun hat. Wollen sehen, wie viele zurückkommen.


Passau, 9. Augsut 1914

Liebe Mutter!

Denke, Dein Sohn läuft noch immer als schäbiger Zivilist herum! Du machst Dir keinen Begriff, was das mit der Einkleiderei für eine Gaudi war und ist! Erst die Reservisten (zum älteren Regiment gehörig), dann das Landwehrbataillon – die Leute brauchten alle Uniformen. Da blieb für das Ersatzbataillon nicht recht viel übrig und dieser Rest war mehr als kläglich. Nun sollen neue Uniformen gekommen sein.


Passau, 11. August 1914

… Heut gibt`s nur eine recht kurze Mittagspause, dann muss ich meine Männlein wieder anziehen. Seit 7 Uhr (bis 11 Uhr) bin ich in der „Kammer“ und mache mich nützlich. Ich glaube nicht, dass bis an mein Ende noch einmal eine Motte näher als 20 Meter an mich herankommt, so dufte ich nach Naphtalin.


Passau, 12. August 1914

Heute hatten wir von 6.30 Uhr bis 10 Uhr das erste Exerzieren. Es war mehr, um den Leuten und den Kommandierenden das neue Reglement vorzuführen. Es ist doch recht viel anders geworden und ich muss fleissig sein, um das zu lernen. Nachher hielt dann der Hauptmann eine sehr hübsche Ansprache an die Leute, es hat sie mächtig gepackt.

… Heute bin ich Offizier vom Truppendienst und kann als solcher zum erstenmal mit dem Major, bei dem ich mich melden musste, in Berührung: Helm, Orden, Schützenschnur – wer hätte gedacht, dass ich die einmal tragen würde!! Die Leute geben sich Mühe, und mit etwas Anerkennung kommt man am weitesten. Gestern sagte ich: „Ein aktiver Zug macht euch den Griff nicht so leicht nach.“ Da haben sie geschmunzelt, und wie ich dann nieste, schrie der halbe Zug: „Zum Wohl!“ Ich fiel fast um, sagte aber nichts, denn es war ja gut gemeint.

Das Schönste ist immer das abendliche Bad in der Donau. Das ist herrlich. Denn schwitzen muss man, dass es aus ist.

Wir sind alle blau, erst die Felduniform ist grau. Heut vor einem Vierteljahr auf dem Ätna, o mei!


Passaui, 20. August 1914

… Morgen ist Vaters Geburtstag! Was er wohl sagen würde, wenn er diese Zeit miterlebt hätte? Nun kommt das Japanergesindel auch noch! Aber es macht auch das nichts. Nur Kiautschau tut mir leid, das wird jedenfalls dran glauben müssen.

… Gestern Nachmittag war sehr nettes Schießen. Von allen Unteroffizieren der Kompanie schoss ich am besten und auch den Oberleutnant holte ich runter. Das macht Spaß, nicht? Famit ich nicht zu üppig werde, kam ich gleich darauf in ein sehr starkes Gewitter mit unglaublichen Regenfluten. Na ja, heut bekomme ich ja meine neue Litewka, mit der neuen Hose laufe seit vorgestern herum, ich brauche mich also nicht ins Bett zu legen, wenn ich bis auf die Haut nass bin.


Passau, 21. August 1914

Liebe Mutter!

Erstens, damit Du Deinen Sonntagsgruß hast und dann unter dem Eindruck der heutigen Siegesnachricht! Ich war beim Löhnungsappell, als mich ein Mann am Ärmel zupfte und sagte: „Genga`s außer – a Sieg!“ Dann führte er mich zum Telegramm, das an einem Ladenfenster pappte und bat mich, ich solle es laut lesen. Ein Haufen Leute stand herum und rief dann „hoch“ und „bravo!“ Ich werde diese Situation nie vergessen. Als ich nach einer Stunde heimging, hingen schon die Fahnen heraus und ich musste immer an Deine und des Vaters Berichte von 70 denken, wenn in Erlangen geflaggt wurde. – Hoffentlich geht`s so weiter.

…Gestern schoss ich wieder recht gut und vorgestern bekam ich eine Belobigung für die Führung meines Zuges – hauptsächlich weil ich selbständig einem Befehl entgegengesetzt gehandelt hatte. Taktisch nämlich.

Es gibt mancherlei zu lernen und oft nehme ich meine Felddienstordnung in stillen Stunden vor, habe aber auch im Neuen Testament gelesen, das beim Ausrücken im Tornister mitgehen wird. Und meine „Browning“ in der Tasche, denn gegen die Verwundeten wird ja von den Franzosen ganz hundesgemein verfahren.


Passau, 23. August 1914

… Gestern war Umfrage im Bataillon, wer sich von den Vize als Feldwebelleutnant zum Landsturm melden wolle. Ich war nicht anwesend in der Kaserne, als die Umfrage kam, und als auf mich hingewiesen wurde, sagte der Feldwebel: „Den trau ich mich gar nicht zu fragen.“ Das ist doch auch in Deinem Sinn, liebe Mutter? Möchtest Du einen Sohn haben, der hinter sichern Mauern hockt, aber keinen Grund dafür angeben kann als: „dass ich ja mein armseliges Leben behalte!“? Es heißt doch auch von einem Haushalter, der nicht mit seinen Pfunden wuchert, und deshalb nicht bestand. Einstweilen ist`s ja noch nicht so weit, und wenn der Tag kommt, sollst Du stolz sein können auf Deinen Sohn, der auch mit dabei war!


Passau, 28. August 1914

Liebe Mutter!

Wenn Du den Brief erhälst, sind wir vielleicht schon in der Nähe von Ulm! Heute morgen hielt der Major vor versammeltem Bataillion eine Ansprache und dann hieß es: „Freiwillige vor!“ Ich glaube, ich war der Erste. Dann fragten meine Leute: „Herr Feldwewi, gengan S`auch mit?“ „Freili, der werd net mitgehn!“ „Ja dann gengan mir a mit.“ Darauf trat über die Hälfte meiner Leute vor „Aber gelt, mir derfen bei Eha bleibn?“  „Sie, schaugen`s mei Messer o!“ Und so ging`s weiter! Auf dem Heimweg schritt ich als ältester diensttuender Offizier wirklich mit Stolz den Leuten voran. Und die „Wacht am Thein“ haben sie gesungen, dass alles an die Fenster stürzte.


Laim, 30. August 1914

Erster Halt nach neunstündiger Bahnfahrt. Na, sehr schön war`s nicht. Desto ergreifender der Abschied in Passau. Die halbe Bevölkerung war am bahnhof.


31. August 1914

Die 2. Nacht wäre nun auch herum. Ich hatte schon angenehmere Fahrten, aber jetzt findet man hinter nichts mehr was. Eine Aufnahme hatten wir, nicht zum sagen: Kaffee, Limonade, Ansichtskarten usw. in Leutkirch sogar Musik – unglaublich. Wollen sehen, wie`s nun weiter geht.


Colmar, 1. September 1914

Nun bin ich hier nach 41stündiger Fahrt und 2 ½ stündigem Marsch. Eingeteilt werde ich erst heute auf dem Marsch.


Lörrach, 3. September 1914

Die 3. Nacht sind wir nun unter freiem Himmel. Es ist herrliches Wetter, und gestern wurde Dein Sohn feuergetauft, er hat`s gut überstanden. Leider ein Bekannter von mir nicht, den haben die verfluchten Alpins totgeschossen.


Kleiner Hohnack (Vogesen), 6. September 1914

Ja wundervoll ist`s hier, wenn nur nicht die Franzosen derselben Anschauung wären und deshalb keinen Grund einsehen fortzugehen. Wir haben eine Elitetruppe uns gegenüber, die reichlich mit sehr gut schießender Artillerie ausgestattet ist, die uns schon ziemliche Verluste beigebracht hat. Ich stand auch schon zweimal im Feuer. Es ist unheimlich, wenn die Schrapnells angezischt kommen, über einem explodieren und nun ihre Kugelladung schräg vorwärts streuen. Das zischt und saust durch die Bäume, Äste und Kronen krachen auseinander, und mancher bleibt dabei liegen. Man gewöhnt sich aber daran. „Und also sind auch eure Haare usw.“

… Hier oben (850 Meter) ist`s wundervoll. Nur die Nächte kühl – heute morgen hatten wir 8 Grad – und wenn man bloß einen Mantel zum Zudecken hat und der Zurnister zum Hemdwechsel fehlt, dann muss man sich wundern, dass es keine Kranken gibt.

Heute ist`s Sonntag, zur Feier des Tags nahm ich ein frisches Taschentuch. Mit dem Waschen ist`s schon seit fünf Tagen nichts. Aber da kann man nichts machen, es kommen auch wieder reinlichere Zeiten. In meinem Trinkbecher war gestern Käse, dann Wein, dann Kaffee, da es Wasser zum Auswaschen nicht gab, haben sich die Geschmäcker etwas vermischt. Der herrliche Vollmond jetzt – ich musste immer an unseren Einzug in Venedig denken! Wie sich die Zeiten ändern!


Vogesen, 9. September 1914

Heut will ich Dir was von der Verpflegung berichten, wie wir sie hier oben auf dem Kleinen Hohnack seit fünf Tagen haben.

Man steht schon früh auf, denn man legt sich gewöhnlich schon um ½ 9 Uhr in sein „Bett“, und dann friert`s einen meist so, dass man sich gern den Sonnenaufgang ansieht. Heute haben wir uns Laubhütten gebaut, nachdem wir die ganze Nacht ganz schändlich verregnet worden waren. Ist dann alles auf, so gegen 6 Uhr, dann geht`s korporalschaftsweise zum Kaffeefassen an den Fuß unsres Bergschlosses (Ruine). Da gibts zwar keinen Göttertrank, da gewöhnlich Zucker und Milch fehlen, aber er ist heiß und das ist die Hauptsache.

Wir erhalten das Mittagessen mit der Mannschaft, aber die besten Stücke werden für uns ausgesucht. Die Abwechslung ist nicht recht groß. Schweinefleisch oder Rindfleisch, manchmal statt dessen auch Speck. Damit ist die Verpflegung erledigt, denn abends gibt`s nichts mehr. Dafür erhält der Soldat seinen Kommiss in reichlichem Ausmaß. –

Von vorgestern auf gestern hatte ich eine Offizierspatrouille, früh 4 Uhr durch den „morgenfrischen“ Wald, bei Vollmondschein. Eigentlich sehr schön, nur war das Vergnügen dadurch beeinträchtigt, dass die Möglichkeit des Angeschossenwerdens mit jedem Schritt, den man tiefer in den Wald hinein tut, wächst, aber es ist nichts vorgekommen, nebenan wurde etwas geknallt, doch hört man da kaum mehr hin. Abends 9 Uhr wurde ich abgelöst, nachdem ich mich schon zum schlafen niedergelegt hatte. Eine angenehme Überraschung.


Vogesen, 16. September 1914

… Brenzlich ist die Offizierspatrouille auf den Breitberg, die mich morgen wieder trifft. Das bedeutet 24 schlaflose Stunden, kaltes Essen und Frieren, namentlich wenns regnet. Alle zwei Stunden muss man mit ein paar Mann Patrouille gehen und da heißt`s sehr vorsichtig sein. Die Herren Alpins haben außerdem die Eigentümlichkeit, sich auf die Bäume zu setzen und dann, wenn man vorbei ist, einen rückwärts zu beschießen. Der Hauptmann wünscht immer „gut Glück“, wenn abends 5 Uhr abmarschiert wird. Bis jetzt ging auch alles gut, doch man weiß nie, ob und wie man zurückkommt.

Sonst gibts Appelle, Unterricht, Ziel- und Anschlagübungen usw., also ganz garnisonsmäßig. Der Feind sucht stets nördlich durchzubrechen – gestern und vorgestern machte er vergebliche Versuche. Wir liegen halt einander gegenüber und kein kann vorwärts. Scheußlich!


Offizierspatrouille B., 18. September 1914

Liebe Mutter!

So, nun bin ich wieder glücklich zurück von meiner „Patrouille gegen den Feind“. Aber zuerst von der heutigen Nacht. Um 5 Uhr sind wir gestern Abend hier ausgezogen. Es ging ein grausamer Wind und alsbald begann es auch zu regnen – nein, zu schütten! Ich glaube, ich habe noch nie in meinem Leben derartig gefroren. Der Boden ist Hochmoor und das „Bett“ halbverfaulte Farrenkräuter – die wachsen hier in seltener Pracht – und über dem Kopf die Zeltbahn und natürlich dringt der Wind überall durch. Alle waren wir gleichmäßig nass. Da alle zwei Stunden die Posten abgelöst werden, war auch sonst von Schlafen keine Rede. Gegen 1 Uhr hörten die Güsse auf und es wurde eine sternenklare Nacht, aber bitter kalt bei dem greulichen Wind. Ich war totfroh, als es um ½ 6 Tag wurde. Die Meldung, die ich ans Bataillon schreiben musste, sah unglaublich aus, fürchterliche Buchstaben von den vollständig steifen Fingern herrührend und einige kräftige Moorflecken darauf. Der Major wird eine große Freude gehabt haben! Dann musste ich ein Kroti zeichnen, das auch entsprechend ausfiel. Um 8 Uhr kam der Kaffee. Eiskalt, ohne Milch und Zucker, dafür ein ordentlicher Brocken Kommiss. Schmeckte tadellos.

Um 8.15 Uhr rückte die Patrouille ab, ich mit drei Freiwilligen, die sich gestern schon gemeldet hatten. Zuerst ging`s auf gewohnten Pfaden, aber immer mit Vorsicht, da man nie wissen kann, ob nicht irgendwo einer lauert, einen auf 25 Meter herankommen lässt und dann im Unterholz verschwindet. Es war niemand da. Und nun handelte es sich darum, über einen von feindlichen Patrouillen besetzten Berg ins jenseitige Tal zu sehen. Elend steil sind die Berge. Man muss immer weglos hinauf, weil alle Zugänge in erster Linie bewacht werden. Kaum waren wir oben, da knallt?s schon. Weiß der Henker, wie und wo uns die Bande gesehen hat. Wir sahen sie natürlich nicht. Es ist wohl nicht zu viel gesagt, dass jetzt ein halbstündiges Rutschen auf dem Bauch begann. Wir bogen den Patrouillen aus und nach elender Arbeit sahen wir ins „gelobte Land“. Was ich da sah, darf ich Dir nicht sagen. Auf graue Sandsteinblöcke gepresst, lagen wir im Sturme wohl eine Viertelstunde, ganz Mimikry. Die beiden anderen mussten unsern Rücken decken, denn wir hatten Feinde von drei Seiten. Nach vier Stunden waren wir wieder bei unserer Wache, ich vom Resultat sehr befriedigt. … Nun bin ich aber eldend müde und bevor das – kalt gewordene – Mittagessen kommt, werde ich noch etwas schlafen. Unsere Artillerie, die heute wieder ganz toll ist, singt mir das Schlummerlied: Gute Nacht! (1.15 Uhr mittags).

Zehn Minuten später. Das Essen ist gekommen, Suppe, Schweinefleisch und Kartoffelsalat. Da erstere fürchterliche Augen macht, ließ ich sie den anderen. Aber das Fleisch war sehr gut und zum erstenmal gabs was dazu. Nun liege ich wieder im Farrenkraut, meinen noch nassen Tornister als Kopfkissen und freue mich der Mittagssonne. Nur halt immer noch der blöse Wind. –

Eben war ein Kamerad vom … Regiment da, der sich verlaufen hatte.  Nun habe ich ihn wieder auf den richtigen Weg geleitet. Er muss nachschauen, ob ein gewisser Berg besetzt ist. Da heißt`s auch Obacht.


Vogesen, 19. September 1914

… Das mit den Tornistern ist so: fürs Gefecht werden sie, wenn möglich, abgelegt und nur der Mantel und der eiserne Bestand mitgenommen. Die Tornister werden später nachgefahren. So kann`s passieren, dass man 2 bis 3 Tage ohne solchen ist. Manchmal verschwinden sie auch ganz, kommen mit denen der Gefallenen untereinander und sind mit ihrem Inhalt verloren. Das ist sehr ärgerlich, passierte uns neulich mit 30 Mann. Es ist auch schonb vorgekommen, dass daraus der Tod eines Besitzers gefolgert wurde. Ich habe den meinigen, benütze ihn allabendlich als Kopfkissen, liege auf Stroh und decke mich mit dem Mantel zu. Man schläft mit der Zeit ganz gut – heute nacht herrlich von 10 bis 6 Uhr in einem Stück, fünf Mann in einem Zelt.


20. September 1914

Liebe Mutter!

Erstens: auf den Bergen rundum liegt Neuschnee. Zweitens: ich bin unter einem Dach!

Das kam ganz plötzlich. Gestern ließ mich der Hauptmann rufen und teilte mir mit, dass ich mit meinem Zug in ein Bauernhaus mit Scheune käme, damit die beiden anderen Züge sich besser wärmen könnten, mit Hilfe der frei werdenden Zeltbahnen. Nach einer halben Stunde war ich mit meinen 80 Männlein schon unter Dach, am Fuß des Hohnack. Du weißt nicht, was das heißt: unter Dach und Fach! Erst brachte ich meine Leute unter, teils in einem Schuppen, teils neben einem Stall, alles gut und warm. Kein nasses Stroh, kein Wind der die Zeltbahnen wegweht! Und ein warmer Herd, an dem man trocken wird, unter dessen Ausstrahlung nun die Pilzkolonie meiner Mamaschen abstirbt, – Und ich? Ich habe mir ein Zimmer requieriert, sitze auf einem Stuhl, einem richtigen Stuhl mit vier Beinen und weiß nicht recht, wo ich die meinigen hinbringen muss, denn es ist das erstemal seit drei Wochen. Essen und Schreiben – alles im Liegen bisher! Und ganz hinten – steht die herrlichste Erfindung der Kultur – ein Bett!! Da lag ich heut Nacht 11 Stunden lang drinnen. Merkwürdig, erst gings nicht recht – so weich und warm, allerdings auch etwas kurz, dagegen aber von dreifacher Breite. Aber dann fand ich das Trumm, und wenn auch nebenan drei Kinder schnarchten – es gibt da keine Türe – das störte mich nicht!


21. September 1914

… Gestern Abend habe ich mir gekocht: das von Mittag übriggebliebene Rindfleisch schnitt ich in Stücke, ebenso rohe Kartoffeln und kochte das Ganze. Das ging dann unter dem Namen „Pickelsteiner Fleisch“. Imponiert das nicht? Heute Abend kommt insofern eine Verbesserung, als ich mir bei meinem Bauern ein Stück Speck kaufte. Dann wird alles gebraten. Dazu trinke ich – einen halben Liter Milch!! Was sagst Du dazu?! Ja, der Krieg!

Vor dem Fenster baumelt eine Unterhose und – wende Dich mit Grausen! – drei Strümpfe. Der Kamerad wird hoffentlich in der Kiste sein. Es trocknet nichts bei dieser feuchten Luft und die Sonne kommt immer noch nicht heraus. Aber Ostwind haben wir doch glücklich durchgesetzt. Es kamen wieder Liebesgaben, 100 Stück Zigarren, ein großes Stück Speck, drei Flaschen Vitelli. Das ist nett zu verteilen. Der Wein wird für Kranke oder solche aufgehoben, die recht nass von Wache oder Patrouille zurückkommen.

Ich habe vom Bataillon einen sehr netten Soldatensprachführer bekommen, mit den Überschriften: Auf Erkundung, auf dem Marsche, Post und Bahn. („Il est défendu sous peine de mort d`expédier des télégrammes“). (Oú est la caisse?) Im Quartier („Flicken Sie mir meine Uniform bis heute Abend“) Kartenlesen, französische Kommandos. Sher nett und praktisch, ganz kleines Format. Einige Wörter habe ich mir noch extra aufgeschrieben und nun treibe ich in meinen Mußestunden französisch!

Nett sind die Leute in ihrer Art schon, nur muss man sie eben zu nehmen verstehen. Ich habe ihnen schon ein paarmal gesagt, sie kämen daher wie eine bewaffnete Feuerwehr. Sie nahmen mir`s aber nicht übel. Neulich kam einer von der Patrouille zurück, da soll er melden, ob er etwas oder ob er nichts gesehen hat. Der Bürger rannte aber gleich in sein Quartier. Ich holte ihn mir dann heraus und fragte: „Wie war`s draußen?“ Dachte nun eine formvollendete Meldung zu bekommen, da antwortete der Gemütsathlet: „Koit is draus, Herr Feldwebi!“ So etwas wirkt direkt verblüffend und ich hatte Not, dem Mann nicht ins Gesicht zu lachen.


Vogesen, 27. September 1914

… Heute morgen war eine großartige Beschießung eines der vorliegenden Berge. Man sah jede Granate und jedes Schrapnell einschlagen. Dazu den Wäldern entlang das Rollen des Geschützdonners, es war recht kriegsmäßig.

Also gestern, da war`s elend brenzlich! Ich hatte den Auftrag, herauszubekommen, was für eine französische Besatzung in Unterhütten liegt. Mit meinen 13 Mann lag ich lange auf der Lauer, aber es kam niemand aus dem Nest heruas. Also – hinein! Zwei Masnn nahm ich mit, während der Rest auf der Höhe mich decken musste. Mit aller Vorsicht, wie die Indianerin schleichend, das Gewehr stets schussbereit, kamen wir an ein haus. Einem Bauernbuben hielt ich gleich das Gewehr vor und sagte, ich würde ihn sofort erschießen, wenn er mir nicht sage, was für Militär in Unterhütten sei. „Niemand!“ Also ein paar Häuser weiter, dieselbe Frage, dieselbe Antwort! Da gewahrte ich auf der anderen Seite des sehr schmalen Tals, auf der Höhe eine deutsche Patrouille. Mit der suchte ich in Fühlung zu kommen, fragte zwei grummetmachende Bäuerinnen aus und ging dann den Wiesenhang herunter. Auf einmal ging eine wahnsinnige Schießerei auf uns los: Wir, kehrt, und über die Wiese den Berg hinaufgejagt, wie ich in meinem Leben noch nicht gelaufen bin! Atemlos machten wir hinter einem Haus ahlt, von dem alsbald die Ziegel herunterschepperten. Aber vom Gegner war nichts zu sehen – so tadellos hatte er sich wieder eingegraben. Aber das konnten wir bemerken, dass er uns bis auf 100 Meter hatte herankommen lassen. Es ist mehr wie ein Wunder, dass wir völlig ungerupft davongekommen sind! Der Unteroffizier auf der Höhe sagte, es seien mehr als 150 Schüsse auf uns abgegeben worden! So eine Bande, bis auf 100 Meter lässt sie einen herankommen!

Das Feuer war auch bei der Kompanie bemerkt worden und während ich dem Major meldete, kam eine Nachricht vom Nebenposten: Sehr heftiges Schützenfeuer nördlich vernehmbar – das waren wir! Wir selbst konnten wegen der unsgünstigen Beleuchtung keinen Schuss abgeben, das hat mich besonders geschmerzt.

Meinen Auftrag aber hatte ich erfüllt! Unterhütten ist frei vom Feind, die Höhen dahinter sind besetzt. – Ich war der erste Deutsche in Unterhütten! –

Weißt Du das Lied „Feldeinsamkeit“? Da fängt der zweite Vers an: „Die schönen weißen Wolken ziehen dahini.“ Das fiel mir plötzlich ein, wie über unserm Schützengraben die Schrapnells platzten!

Das sind auch schöne weieße Wölckchen, aber was runter kommt, ist sehr mies.

… Nun muss ich Apelle halten über meine Mannen. Nachher gehe ich zum Hauptmann hinauf, da gibts immer etwas, Schokolade oder eine gute Zigarre, oder sonst etwas. Er ist sehr nett gegen mich. Auch ein anderer, der mir auf meinen gestrigen Bericht hin eine Halbe Tafel Schokolade schenkte.


28. September 1914

… Nachher marschiere ich mit 69 Mann in die Verteidigungsstellung; ein ziemlich ungefährliches Vergnügen. Gegen französisches Schrapnellfeuer haben wir sichere Unterstände – ist also das einzige, die schlaflose Nacht bei ziemlichem Wind und die Verantwortung. Mit beidem hoffe ich gut fertig zu werden. Auch unsere Unterstände gedenke ich draußen noch etwas auszubauen, da Baumaterial, Holz, Steine, ja genügend zur Verfügung stehen. Es wird also ganz nett werden, vielleicht komme ich sogar dazu, eine Karte zu schreiben.  Die Feldflasche kommt dann auch wieder einmal zu ihrem Recht. Der Inhalt setzt sich zusammen aus halb Rotwein, halb Tee, das muss bis morgen Nachmittag reichen. Ich bin froh, dass ich vom Trinken so unabhängig bin. Wasser trinke ich fast nie. Zwischendurch, auf 2 bis 3 Tage verteilt, eine Flasche Rotwein. Morgens Tee oder Kaffee und abends heiße Milch. Um ½ 9 Uhr liege ich schon im Bett, stehe ¾ 7 Uhr auf. Dann Morgenwäsche am Brunnentrog, gewöhnlich mit 5 bis 6 Mann gleichzeitig. Bereitwilligst wird mir der Platz am Rohr frei gemacht. Das ist alles sehr patriarchalisch. Dass es mitunter, besonders bei Unpünktlichkeit ein ordentliches Donnerwetter gibt, versteht sich von selbst und wird auch nicht anders erwartet.


Kolmar, 1. Oktober 1914

Wie ich vorgestern sehr müde vom Vorpostendienst (24 Stunden) im 8 Uhr abends ins Bett fiel, hörte ich unten Rufe nach mir, ging ans Fenster und bekam den Befehl, die ganze Gesellschaft solle sich sofort zum Abmarsch richten. Dann erklang das Telephon – das seit drei Stunden gelegt war – : „Um 10 Uhr halten Sie Appell.“ Von jener Warterei will ich nicht erzählen. Um ½ 12 hieß es: „Um 2 marschieren Sie ab und stoßen in Giragoutte zur Kompanie.“ Nun vor allem einmal nicht verschlafen! Also wache ich eben. Um ¾ 2 traten die Leute an, und dann ging`s mit viel Gestolper durch den finsteren Wald. Kein Licht, nur mit der taschenlampe leuchtete ich zwischendurch, kurz, um den Weg nicht zu verfehlen. Um ½ 3 waren wir an Ort und Stelle, 10 Minuten nach uns kam die Kompanie. Nun begann der Marsch im Bataillon, das ist bei Tage nicht sehr angenehm – bei Nacht doppelt greulich, weil die ganze Bagage mitfährt, und da gibt`s immer viel Stockung, die ermüden arg! Um ¾ 8 zogen wir erstaunt in Kolmar ein. Wir dachten, es ginge ins Gefecht – nun Rückkehr zur Zivilisation! Aber müde waren wir alle elend und – verwöhnt, da wir an den Tornister nicht mehr gewöhnt waren. Die Leute legten sich sofort hin, und die von meinem Zug, die die zweite fast schlaflose Nacht hinter sich hatten, fingen sofort das Schnarchen an. Dann kamen die Leute mit Liebeskaffee und Brot. Wirklich sehr nett. Das kostet doch immer einen Haufen Geld. Es wurde abgekocht, ich aber drückte mich in die Stadt und genehmigte mir ein famoses Essen zu 1 Mark 60, das hat geschmeckt!! Seit 48 Stunden das erste Warme! Dann ging`s in die Jägerkaserne, für mich aber ins Bad – ich mochte gar nicht mehr heraus. Abends dann mit ein paar Herrn bei Pilsner und Schnitzel und Gerösteten, mir kamen fast die Rührungstränen!


Löwen, 4. Oktober 1914

Liebe Mutter!

Den ersten Gruß aus Feindesland! Nach 42 Stunden sind wir hier angelangt, um baldigst weiter zu fahren. Recht viel von der Stadt sieht man ja nicht, aber am Bahnhof sind`s fast lauter Ruinen. Das sieht bös aus. Bin neugierig, wo wir noch hinkommen.


6. Oktober 1914

… Wir sind also nicht mehr in den Vogesen, sondern in einem anderen land, viel weiter nördlich, wo man französisch nicht versteht. Das ist ein ziemlicher Leim, aber man kommt auch so durch. Die 54stündige Fahrt war nicht sehr angenehm, aber die Verpflegung unterwegs durchweg recht gut. Einmal gabs zum Frühstück eine dicke Bohnensuppe – Wir haben recht anstrengende Märsche.


Hulst, 8. Oktober 1914

… Ich bin mit meinem Zug Artilleriebedeckung, sitze 1 ½ Meter im Boden drinnen, ebenso sind meine Leute 20 Meter vor mir eingegraben, mit Kopfschutz gegen Schrapnells. Wir sind jetzt mitten im Feindesland und das allabendliche Unterbringen der Leute macht sich nicht so leicht. Aber man bekommt darin eine gewisse Fertigkeit, auch ohne Lenntnis des Vlämischen. Da 10 Leute rein, in die Scheuer 30, auf dem Boden haben noch ein Dutzend Platz, und so geht`s weiter. Und ich selbst? Na, halt auf Stroh, mit dem Mantel zugedeckt. Nun haben wir sechs Stunden lang geschanzt, hoffentlich kommen wir nachts „heim“, müssen nicht im Kompanie-Schützengraben, der wieder wo ganz anders ist, nächtigen. Gestern war`s grimmig kalt und stark bereift. Beim Graben kamen heute lauter Muscheln heraus, wie mich die nach Farbe und Form an Venedig erinnerten!


10. Oktober 1914

Liebe Mutter!

Gestern hatten wir ein Gefecht. Ganz unerwartet wurden wir aus unseren Schützengräben um ½ 11 Uhr herausgenommen und mussten bis ½ 5 Uhr nachmittags marschieren und dann ging`s los. Unserer armen Artillerie ging`s sehr schlecht, sie kam in Maschinengewehrfeuer und existiert nun nicht mehr, alles zusammengeschossen. Das ist sehr schmerzlich, denn mit Infanterie allein ist nicht viel zu machen. Dann kamen wir daran. Zusammen mit einem preußischen Regiment ging`s ganz flott vorwärts, d. h. bis wir zur Ruhe kamen, war`s 10 Uhr abends und eine Ruhe war`s nicht, denn wir kamen auf Vorposten in die vorderste Linie und durften nicht mucksen, denn sofort kam ein Hagel von infanteriegeschossen. So ging`s die ganze Nacht durch. Um 6 Uhr früh marschierten wir wieder weiter, und nun sind wir in den Schützengräben, während die feindliche Artillerie eben zu schießen anfängt.

Wir hatten schon so schöne Träume von etwas Ausschnaufen, aber es wird offenbar nichts daraus. Hinten, da wo drei Bauernhäuser den Sitz des Bataillonssatbs anzeigen, quiekst eine Sau in Todesnöten. Hoffentlich ziert sie heute unseren Abendtisch. Gestern Nacht, d. h. heute früh 3 Uhr, gab`s Büchsenfleisch, nach 32 Stunden den ersten Bissen. Das tat wohl!


Lembeke, 15. Oktober 1914

Liebe Mutter!

Endlich einmal eine Art halber Rasttag! Es war aber auch wirklich an der Zeit, weil die Leute mit der ewigen Lauferei anfingen kaput zu werden und gestern massenhaft austraten.

Also wir marschieren andauern, beharrlich. Wohin? wird nicht verraten, auch mir nicht! Wir wissen nur, dass wir sehr nahe bei Antwerpen waren, dass wir einen Umgehungsversuch (in dem Gefecht) erfolgreich zurückschlugen und seitdem marschieren wir, wenn wir nicht graben. Gestern ging`s durch Gent. Das ist aber eine hochinteressante Stadt, Donnerwetter! Das kann sich ruhig mit Nürnberg vergleichen. Erst hieß es, wir würden dort einquartiert, es wurde aber nichts daraus. Es „heißt“ immer furchtbar viel und Nachrichten werden verbreitet und geglaubt, denen der Schwindel an der Stirne geschrieben steht.

Neulich hatte ich einen feierlichen Augenblick. Vom letzten Gefecht ging uns ein Mann ab, von dem die Leute nicht ganz sicher wussten, ob er tot sei. Nun kamen wir wieder in diese Gegend und der Hauptmann bestimmte mich mit zwei Mann, denen sich vier Freiwillige anschlossen, zum Suchen. Die Orientierung im Wald, mit einem unglaublichen Brombeergeranke war nicht einfach. Schließlich fanden wir ihn in einem Graben. Granatsplitter, rechte Schläfe, also gleich tot. Mit Schaufeln bahnten wir einen Weg zur nächsten offenen Waldstelle, dort begruben wir ihn. Es war schon stark am Dunkelwerden, als sich der Hügel wölbte. Dann nahmen wir den Helm ab. Einer steckte ein Kreuz aus einem Stämmchen roh zusammen, und steckte es auf die Kopfseite. Es ist nichts Besonderes und natürlich viel tausendmal vorgekommen, aber ich fand es so außerordentlich ergreifend. Da liegt er nun ganz allein im fremden Land, aber im schönen Hochwald, der tapfere Landwehrmann aus dem Bayerischen Wald! –

Heute bekam ich endlich eine Zeitung in die Hand, eine belgische mit Siegesnachrichten der Russen und Franzosen. Ich habe mich so geärgert über diese Lügerei, dass ich die Blätter wegwarf. Die Bevölkerung ist entgegenkommend, sie geben mehr als sie müssten, namentlich sind sie hier mit Obst beinahe verschwenderisch. Und was für Obst und was für Gärten! Das ist eine Blumenpracht, fast wie im Süden, besonders was Begonien anbelangt.


Beveren, 17. Oktober 1914

Liebe Mutter!

Wir hatten die letzten Tage so anstrengende Märsche und kamen so spät ins Quartier, dass ich Dir nicht schreiben konnte. Heute aber sitze ich in einem belgischen Grafenschloss, neben mir steht eine Flasche requirierten Rotweins, und drunten spielt ein Kamerad Tannhäuser. Und gestern? Massenquartier auf 3 Zentimeter Stroh und nichts zu essen. Das war nach einem Marsch von fast 35 Kilometer sehr bitter! Heute aber ist alles vergessen und wir schauen zu, wie die belgischen Festungsgeschütze vorbeigefahren werden. Morgen kommen wir vielleicht nach Antwerpen, dort sollen ganze Wagenladungen Post liegen, da hoffe ich, dass auch für mich etwas dabei ist!


Beveren, 19. Oktober 1914

Liebe Mutter!

Nun sitze ich wieder in meinem Grafenschloss, nachdem ich eine weniger erfreuliche Nacht im Unterstand der belgischen Infanterie zugebracht habe. Aber das Peinliche vergisst man schnell, erstens überhaupt, und dann, wenn sich´sin einer entsprechenden Gegend abspielt. Und so war´s.

Das Ganze ist nämlich eine großartig angelegte Feldbefestigung, aber eine hundsgemeine Anlage, deren Sturm uns sehr viele Leute gekostet haben würde. Ganz hinten, tadellos eingebaut, 15-Zentimeter-Fußartillerie. Schussweite etwa 5.000 Meter, also nicht sehr modern. Vorne die Infanterie, alles tief in der Erde, hinter starken Dämme, die, der Umgebung angepasst, mit Rasen belegt sind, so dass sie sich nicht von der Umgebung abheben. Zehn Meter dahinter die bombensicheren Unterstände, zum Sitzen und Liegen eingerichtet, obenher ein halber Meter Erde, darunter zwei Zentimeter dicke Stahlplatten und dann noch dicke Ulmenstämme oder Eisenbahnschwellen. Da gehören schon Volltreffer her, um durchzukommen. Dazwischen stehen kleinere Geschütze und Schnellfeuerkanonen, alles hinter Panzerplatten, wie auch die Scheinwerfer, die alle 1.000 Meter eingebaut sind. Die ganze Anlage ist auf 500 Meter Entfernung noch nicht zu erkennen. Und in ein solches Ding gehen etwa 6.000 Infanteristen hinein, dazu noch die Bedienungsmannschaft für die Geschütze. Das Gemeinste aber sind die Drahtverhaue, die sich vor und seitlich der Stellung, etwa 50 Meter tief, auf viele Kilometer Länge ausdehnen. Um noch ein übriges zu tun, sind einzelne Drähte als Leiter der elektrischen Anlage gedacht, d. h. es kann ein Strom durchgeschickt werden, so stark, dass alles was dran kommt, daran hängen bleibt. Ganz hinten sind große Baracken für die Truppen, die nicht vorn in der Feuerstellung liegen. Etwa 15 Meter dicke Dämme geben ihnen tadellosen Schutz. Diese ganze Anlage war nun für die Katz! Sie trat nicht in Wirksamkeit, da unsererseits von Westen her, infolge von Mangel an Truppen, eine Einschließung nicht erfolgte. Deshalb rutschte die Bande auch nach Westen aus. – Die sämtlichen Anlagen sind gespickt mit herumliegenden Patronen, die die Herren – der Munition nach zu schließen waren es Belgier, Engländer und Franzosen – schnell fortwarfen, wie sie auch die Verschlussstücke der Geschütze entfernten, eingruben, die wir aber fast alle wieder fanden. Mit meinem Zug habe ich allein etwa 7.000 Patronen aufgelesen, die frei herumlagen. –

Dieser Tage musste ich immer an den alten Moses denken. Weißt Du, was zwischen ihm und mir für eine Ähnlichkeit besteht? „Du selbst aber sollst nicht hineinkommen!“ nach Antwerpen nämlich, um das wir seit 14 Tagen herumziehen. Nun kommt es aber wahrscheinlich doch so weit. Dann bekommst Du also den nächsten Gruß aus einer richtig gehenden Stadt, mit Garnisonsdienst und mit viel Essen und Schlafen. Das ist beides bei uns recht rar geworden und wir sind ziemlich mager.


Antwerpen, 23. Oktober 1914

Liebe Mutter!

Nun sitze ich also doch in dem gelobten Land und zwar in einem seiner ersten Hotels und schreibe schnell einen kurzen Gruß ehe ich meine Wache beziehe – „wie einst im Mai“ – aber nicht Wachkommandant Steinbachstal bei Würzburg, sondern Offizier vom Wachdienst Hauptbahnhof Antwerpen, der ist nämlich unserm Schutze anvertraut und in seinen zwei Wartesälen liegt die Kompanie und bewacht. Ein Zug ist immer auf Wache, ein anderer hat Bereitschaft, der dritte hat Ausgang. Die Wachen sind nun nichts sehr Angenehmes, denn der Bahnhof ist sehr groß und die Verantwortung nicht kleiner, man muss also tatsächlich stets „auf dem Posten sein“, zumal da man der hiesigen Bevölkerung nicht recht traut, und wenn sie uns mit einigen Bomben den Bahnhof zerstören, so fällt natürlcih zunächst der wachhabende Offizier herein. Gesehen habe ich von Antwerpen eigentlich noch nichts, da der Dienst uns von früh bis nachts in Bewegung hält. Für uns ist´s keine Erholung, höchstens insofern als man ohne Gepäck läuft, aber ich bin kaum weniger auf den Beinen. Die Stadt muss uns verpflegen und nicht schlecht! Morgens gibt´s zum Tee Fleisch und Marmelade, um 1 Uhr Gabelfrühstück, abends großes Souper mit vier Gängen, Bier, Wein so viel man will, für zwei Mann eine Flasche Sekt und sechs Zigarren. Kannst Du Dir einen größeren Kontrast vorstellen, als unser bisheriges und nun das neue Leben?? Schade ist nur, dass das Essen von sämtlichen 23 Herren des Bataillons gemeinsam eingenommen wird und deshalb ewig lang dauert. So kommt man um jede freie Zeit. Aber neulich bekam ich den Befehl, mit einem Teil der Leute den Zoologischen zu besichtigen. Die Raumtiere waren ein paar Stunden vor der Übergabe erschossen worden, da eine Granate in den Garten gefahren war. Der Garten liegt nämlich fast im Zentrum der Stadt. Dafür habe ich aber noch nie eine solch herrliche Sammlung scheußlicher Reptilien gesehen. Aber auch die Giftschlangen waren getötet worden.

Nun will ich Dir etwas vom Bahnhof, unsrer Kaserne erzählen. Wie wir in die Wartesäle kamen, sah es drinnen ganz entsetzlich aus. Berge von Handkoffern, zum Teil aufgerissen, lagen herum. Alles von Flüchtlingen, die die Stadt nicht mehr verlassen konnten, und nun ohne ihren Kram fortgefahren werden. Aus Wagenpolsern usw. hatten sie sich Betten hergerichtet – und eine Luft! unbeschreiblich. Über dem Ganzen schwebten Wolken von Desinfektionsgerüchen und allenthalben sah man am Boden die ominösen braunroten Flecken, die sagen, dass hier auch verbunden wurde. Viel Elend ist da beisammen und es ist wieder ein Gegensatz, wie ihn nur der Krieg erzeugt, dass da, auf einem Haufen Tragbahren zuoberst einer sitzt und – Ziehharmonika spielt! In den Kellerräumen des Bahnhofs liegen Hunderte von Säcken mit unbestellter Post. Dieser nimmt sich nun ein Post- und Bahnkommando an, das gestern in Stärke von 150 Mann eingetroffen ist. Die Keller liegen voll Passagiergut, auch teilweise erbrochen (Engländer!!). Auch hier wird von uns gesichtet und geordnet, also Arbeit in Hülle und Fülle.

Recht bezeichnend ist, dass es keine Bettwäsche gibt, wenigstens keine frische. ERs herrscht Wassersnot. Durch ihre Überschwemmungskünste hat die Wasserleitung so gelitten, dass sie nur zum kleinern Teil funktioniert. Nun gibt´s ganz wenig und ganz unbrauchbares Wasser. Auch im Hotel – erstklassig! – fehlen die Servietten aus dem gleichen Grund. Auf den Straßen aber ist starkes Leben, die Geschäfte sind zum größten Teil geöffnet und scharenweise kommen früh 5 bis 8 Uhr und nachmittags 3 bis 6 Uhr die Flüchtlinge aus Holland zurück. Die Passkontrolle dieser Leute trifft mich in den nächsten Tagen.


24. Oktober 1914

Recht herzlichen Dank für Deine beiden Briefe und Sendungen vom 3. Oktober, es ist das erste, das ich seit drei Wochen erhielt! Ich kam mir vor wie an Weihnachten.


Brasschaet, 27. Oktober 1914

Liebe Mutter!

Nun bin ich also Kommandant des oben genannten Truppenübungsplatzes und des gleichnamigen Forts geworden. Seit 24 Stunden bin ich hier mit meinem Zug, Matrosenartillerie ablösend. Mit meinen paar Männlein verschwinde ich fast, nicht nur auf dem riesengroßen Platz, sondern auch in der Kaserne, die aus vier Bauten besteht. Wir sind zunächst zum Schutz des herumliegenden Militäreigentums und dann zur Fortbesetzung bestimmt …

Heute kam Deine „Illustriete Zeitung“. Besten Dank dafür, ich habe sie mit viel Interesse angeschaut, soeben genießt sie die Mannschaft, die, wie immer, außerordentlich froh ist, wenn sie was zu lesen bekommt. Bei ihr endigen auch in der Regel die „General-Anzeiger“.


Fort Brasschaet, 12 Kilometer von Antwerpen, 28. Oktober 1914

Liebe Mutter!

Es ist 11 Uhr abends und eben komme ich von der Postenrevision und einem Patrouillengang zurück. In Antwerpen scheint´s nämlich nicht ganz sauber zu sein, und da denkt man, dass die Landbevölkerung vielleicht auch Mätzchen macht. So sind wir eben sehr auf unserer Hut und es machte auf die Eingeborenen des Dorfes Maria her Heyde sichtlichen Eindruck, wie ich um 7 Uhr mit drei Mann mit aufgepflanztem Seitengewehr und schussfertiger Pistole durch den Ort zog. Auch jetzt begegneten wir ein paar Männern, die ehrfürchtig ihren Hut zogen. Ich glaube kaum, dass uns von dieser Seite kaum Gefahr droht, aber „bereit sein“ usw.

Mein Zimmer in der Kaserne wird immer netter. In einer (der verlassenen) Beamtenwohnung holte ich mir Vorhänge, die ich mir aufmachte. Weil nichts anderes da war, mit Hufnägeln einfach an´s Feneterkreuz genagelt. Über das zweite Bett kam ein Läufer und vor meines ein Tierfell unbekannter Herkunft. Der Glanzpunkt aber ist ein eiserner Ofen, der tadellos wärmt.

Wenn ich Dir nur von den herrlichen Chrysanthemen schicken könnte! Es ist doch recht bezeichnend, dass ich als Blumenvase eine krepierte belgische Granate habe! Die wirft mir keiner um!

Das wäre einmal ein interessanter Aufsatz: „Augen und Ohren im Krieg.“ Ich bin ja mit beiden, Gott sei Dank, fast im Übermaß ausgestattet. Aber was gibt es nicht für Sinnestäuschungen! Gestern Nacht zum Beispiel ert. Ich ging Patrouille um halb 1 Uhr, eine lange Allee entlang, die im Dorf endet. Es war nun allerdings nebelig – aber trotzdem hätte es nicht vorkommen dürfen, dass ich auf 50 Meter zwei Lorbeerbäume in Kübeln, die beieinander standen, mit „halt, wer das!“ und schussfertiger Pistole anrief. Eine ängstliche Natur hätte sofort geschossen – auf einen Menschen mehr oder weniger kommt´s ja wirklich nicht so genau an, namentlich bei zweifelhafter Bevölkerung. Aber die Wirkung! Der eine Posten wäre angerast, der andere hätte alarmiert, die ganze Gesellschaft wäre ausgerückt wegen – einer Augentäuschung!! Im Nachbarort wird aber der Schuss auch gehört. Auch da allgemeiner Aufstand, die ganze Linie wird rebellisch; am nächsten Tag Anfrage vom Bataillon, warum geschossen wurde! Mir ist ein Fall bekannt, wo wegen drei arbeitenden Bahnleute – eine Brigade ausrückte! Und erst nachts, im Wald auf Vorposten! Es braucht gar kein Reh aufgescheucht zu werden. Nein, es gibt kein „Schweigen im Walde“ – der Wald ist das Geschwätzigste, was es gibt. Sag´s nur Böcklin!!

Neulich lagen wir in einem Schützengraben hinter Sandsäcken, einen ganzen Tag fast und warteten auf den Feind, der aber nicht kam. Ausgerechnet an meinem Platz stand ein Sack: „Garantiert reine 15 % Thomasschlacke.“ Die ganze Front, soweit mir zugänglich, suchte ich nach einem zweiten ab – vergeblich! O Thomasmehl – bis in die Schützengräben von Antwerpen begleitest Du mich – bin ich dir denn mit Haut und Haar verschrieben?!

Heute hatte ich Gelegenheit, mich zu wiegen. Obacht! jetzt gibt´s was zu lachen! … Ich habe 40 Pfund abgenommen! Was sagst Du zu diesem Kriegsergebnis? Dabei fühle ich mich aber pudelwohl, „nur passt mir schier kein Röcklein mehr“. Beim Ausrücken aus Passau wollte der Hauptmann, ich solle einen anderen Waffenrock nehmen, dieser sei zu eng. Nun wirft er Falten und Wellen wie das sturmbewegte Meer bei Amalsi! –

Heute fand ich in einem Raum etwa 3.000 Granaten, von den niedlichen (scheußlichen) kleinen bis zu solchen der Festungsartillerie, die mir bis über die Knie reichen.

Es ist nachts 12 Uhr 15 und ich bin recht müde. Zwei Posten will ich aber doch noch nachsehen – entschuldige den Klex. Die Feder ist mir aus der Hand gefallen, da ich eben etwas einnickte. Ja, der Dienst ist nicht leicht hier außen.


Camp de Brasschaet, 31. Oktober 1914

Liebe Mutter!

Nun kommen sie aber massenhaft angezogen, Deine lieben Briefe, die ich so lange und sehnsüchtig erwartet habe. Meine Hoffnung ist, dass auch über Dich eine solche Hochflut kommen möge. –


Brasschaete, 1. November 1914

Die Verteilung der Post, die mir obliegt, ist was Nettes. Ich sitze da auf meinem Mannschaftsbett und vor mir liegt ein großer Haufen Pakete und Briefschaften. Die Leute stehen erwartungsvoll um mich herum und lauern, ob ihr Name aufgerufen wird. Dass es mitunter getäuschte Gesichter gibt, lässt sich nicht vermeiden.

… Nachher gibt´s noch ein großes Fest für mich: ein Wannenbad! Das ist alles tadellos eingerichtet. Wie viele nach mir in dasselbe Wasser steigen werden, weiß ich allerdings nicht. Aber „apres nous“ usw.

Französisch spielt eine große Rolle, da das bessere Publikum durchweg französisch spricht, natürlich neben vlämisch. Die Leute, die da einen Teil ihrer Möbel holen dürfen, sind einfach köstlich in ihrer Verständnislosigkeit der Situation! Weil ich für diese Sachen da bin, soll ich alles wissen. Wenn der Jammer über all das unendlich Zerstörte zu arg wird, sage ich: „Bedankt Euch bei den „burgers“ von Maria her Heyde und Euern Freunden, den Engländern!“ Das wirkt kolossal. Und tatsächlich hat auch der Pöbel alle Schränke und Kisten aufgebrochen, die Sachen zerstreut und man watet durch einen Haufen von uniformen, Damenkleidern, Wäsche, photographische Ansichtskarten usw. Keine Tür ist unversehrt, kein Koffer, fertig zum absenden, ganz geblieben. Es ist einfach grauenhaft und die Leute tun mir leid. Wenn ich sie etwas mehr mitnehmen lasse, als ihre Betten, noch ein paar Bilder usw. – es ist gegen die Vorschrift, aber die ist gegen mein Herz! –

Was sagt Dein hausmütterliches Herz dazu, wenn ich Dir sage, dass ich mein Handtuch, mangels eines Henkels, jeden Morgen an den Türpfosten annagle? Eigentlich scheußlich, nicht? Aber da kann man nichts machen, –

Lerici, Théoule usw., ach ja – wie liegt das weit, weit! Aber ich glaube, wenn wir – wie der Vater immer sagte – „das Leben haben und gesund sind“, dann fahren wir noch einmal nach Capri. Merkwürdig: trotz all des Eigenartigen und Herrlichen, das Sizilien bot – Capri war doch eine Sache so ganz für sich und vielleicht auch deshalb mit anderem nicht vergleichbar. Weißt Du noch, wie wir vom Festland aus, auf der Wagenfahrt, Capri daliegen sahen – u n s e r Capri?

Nun leb wohl, ich hoffe, Du weißt jetzt, dass ich beim Amtsgericht Antwerpen zuständig bin.


 

 

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In vorderster Reihe der dritte Soldat von Links ist Otto Kerler
Wigwam in den Vogesen – der stehende Mann im Hintergrund ist Otto Kerler
Otto Kerler bei Brasschaet